Wenn noch alles möglich ist
In “Hier ist noch alles möglich” von Gianna Molinari wird die Suche nach einem Wolf zu einem wichtigen Befreiungsakt im Leben der Protagonistin. Dort, wo noch alles möglich ist, herrscht Hoffnung und es ist diese Hoffnung, die wir in unserem Leben brauchen.
“Präzise und kraftvoll vermisst Gianna Molinari in ihrem Debüt unsere Lebensräume und die Grenzen, die wir um uns ziehen.”
So liebevoll und wundersam wurde “Hier ist noch alles möglich” im Rahmen der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2018 vorgestellt. Glaubst du, ein Roman, der hauptsächlich in einer Fabrik spielt, in der eigentlich überhaupt nichts passiert, kann nicht spannend und lehrreich sein? Du irrst dich, denn Molinari hat es mit ihrem Debüt wahrlich bewiesen: die Suche nach dem, was uns ausmacht und bewegt, ist manchmal aufregender als das, was wir am Ende finden.
Möglichkeiten erkennen
“Die Fabrik ist keine Investition mehr mehr wert. Warum haben Sie mich dann eingestellt? Sie sind keine Investition, sondern eine Notwendigkeit. Ich will, dass alles mit rechten Dingen abläuft, ich will mir zum Ende hin keine Fehler erlauben.”
Eine Fabrik steht kurz vor der Schließung. Auf dem Gelände wurde ein Wolf gesichtet und der Fabrikbesitzer stellt eine junge Frau als Nachtwächterin an. Die ganze Geschichte wird uns aus ihrer Perspektive erzählt, dennoch erfahren wir nicht viel über sie.
“FABRIK: Ich bin nicht wegen der Fabrik hier. Ich bin hier, weil hier ein neues Umfeld zu entdecken ist.”
Wir wissen nicht wo sie herkommt und wohin sie gehen wird. Was umso seltsamer anmutet, da sie selbst sehr wissensdurstig ihre Mitmenschen, den vermeintlichen Wolf und ihre Umwelt beobachtet und wahrnimmt.
Möglichkeiten schaffen
Die Frau erzählt uns so einiges über ihre Beobachtungen und geht förmlich in ihrer Arbeit auf bzw. dem was sie daraus macht. Aus der Falle, die sie beispielsweise für den Wolf gräbt, könnte ja später ein kleiner Teich werden und die Überwachungsmonitore verraten ihr zwar keine Eindringlinge, geben jedoch spannende Einblicke in die umgebende Flora und Fauna.
“Ich werde den Koch fragen, wie der Wolf aussah, wie groß er war, was er tat, wie er schaute oder nicht schaute, wie er sich bewegte. Ich werde in die Kantine gehen, vielleicht eine Suppe essen und den Koch fragen, wie er reagiert habe, ob der Wolf ihn erschreckt habe, ob er Angst habe, ob er sich nicht habe bewegen können, wer von beiden sich zuerst bewegt habe, der Koch oder der Wolf, in welche Richtung der Wolf verschwunden sei, ob er zurückgeschaut habe, ob der Koch das habe sehen können.”
Manchmal erscheint uns unsere Arbeit stumpfsinnig und eintönig. Wir verlieren den Sinn aus den Augen und suchen nach etwas ganz Neuem, was uns Erfüllung gibt. Selten habe ich ein so ruhiges Buch wie “Hier ist noch alles möglich” gelesen, das ohne Lärm und starke Aktionen daherkommt und meinen Wunsch nach Sinnhaftigkeit und Achtsamkeit doch so sehr stärken kann.
“Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder viele Geschichten zugleich. Die Frau aus dem Film ist vielleicht in den Himalaya gegangen, in die Karpaten, nach Madeira oder auf eine andere Insel. Ich bin in die Fabrik gegangen.”
In eine Verpackungsfabrik um genauer zu sein. Auch das ist etwas, was ich an diesem Buch sehr mag: Es ist ein literarisches Werk, das unserer Interpretation absoluten Spielraum lässt und damit jeder Leserin und jedem Leser die Möglichkeit gibt, etwas Eigenes im Text zu entdecken.
Stärke und Widerstand, oder Anpassung?
Ich könnte jetzt beispielsweise lange Theorien raus kramen, wofür der Wolf in der Geschichte steht. Vielleicht geht es um das hochentwickelte Sozialverhalten, das ein solches Rudeltier mitbringt; vielleicht um seine Anpassungsfähigkeit oder seine Aura der Stärke und Widerstandsfähigkeit. Das Besondere ist wirklich, dass hier noch alles möglich ist. Beim Lesen gestalten wir die Geschichte ganz individuell und ziehen somit auch unsere eigenen Schlüsse.
“Manche Bücher sind wie Inseln. Leser betreten sie nur kurz, aber lang genug, dass sie ihre rätselhafte Schönheit, ihren sprachlichen Bewuchs, ihre Bewohner nicht mehr missen möchten. Hier ist noch alles möglich ist genau so ein Buch.” sagt Saša Stanišić über “Hier ist noch alles möglich”.
Ich kann mich diesen Worten nur anschließen. Der Debüt-Roman von Gianna Molinari ist ein achtsames Werk, das ich irgendwann nur noch nachts lesen wollte, um irgendwie in den Nachtwächterinnen-Modus der Protagonistin zu gelangen.
“Die Taschenlampe macht die Nacht nicht heller. Im Gegenteil. Das grelle Licht drückt die Nacht lediglich zur Seite. Außerhalb des Lichtkegels aber ist sie umso dunkler. Ich fürchte mich nicht vor dem Wolf. Ich fürchte mich manchmal vor der Dunkelheit.”
Mir ist, als hätte ich ein paar Tage mit ihr in dieser Verpackungsfabrik verbracht und auf die Monitore geschaut, um den Wolf zu finden. Mir ist auch, als hätte ich mit diesem Roman ein Stückchen mehr Bewusstsein für die kleinen Dinge und Erlebnisse entwickelt. Es ist ein gutes Buch. Hier ist noch alles möglich.