Neue Wege und neue Bücher
Die französische Schriftstellerin Christine Féret-Fleury hat aus dieser Erkenntnis heraus einen Roman verfasst, der über Bücherliebe und Leidenschaft für gute Literatur hinausgeht: er bietet die Erkenntnis, dass Bücher und Menschen unabdingbar zusammengehören. “Das Mädchen, das in der Metro las” ist deshalb auch nur auf den ersten Blick die romantisierte Erzählung über eine junge Frau und ihrer leidenschaftlichen Entdeckung der Literatur. Es ist eine Geschichte über das Leben mit tiefen und wahren Emotionen, kleinen Freuden, Verlusten und der Erkenntnis, dass Bücher die Kraft haben, unser Leben zu verändern.
Wann ist ein Buch ein Buch
In zahlreichen Rezensionen, Instagram-Beiträgen und Facebook-Kommentaren las ich, dass es sich bei “Das Mädchen, das in der Metro las”, um eine “Liebesgeschichte an das Buch” handelte. Ich glaube, dass damit aber nur die Hälfte gesagt ist, denn viele Menschen machen sich schon gar keine Gedanken mehr über die Bedeutung und den Wert von Büchern. Ich wage sogar so weit zu gehen und behaupte, dass der Begriff “Buch” für einige Menschen leer ist. Vielleicht nicht für dich und mich, aber für andere, die anders aufgewachsen sind, denen seltener vorgelesen wurde oder denen die fantasievollen Welten unserer innigen Lesestunden verwehrt blieben. Und ich werde sogar noch provokanter und behaupte, dass selbst wir, die wir gute Bücher zu schätzen wissen, oft genug den wahren Wert der Literatur aus den Augen verlieren.
Der wahre Wert der Literatur
Das klingt natürlich etwas pathetisch und den “wahren Wert” der Literatur muss wahrscheinlich jede Leserin und jeder Leser für sich selbst definieren. Für meine Recherche über “Das Mädchen, das in der Metro las” habe ich mich auch mal in französischsprachige Foren begeben und wurde ganz selig ob der wundervollen Liebeshymnen auf die Literatur im Allgemeinen und diesen Roman im Speziellen. Juliette, unsere Protagonistin, ist eigentlich keine Heldin. Ihr haftet etwas passives, unsicheres an und dennoch trifft sie immer wieder überraschende Entscheidungen. Sie nimmt unvorhergesehene Wege, lässt sich auf Abenteuer ein und widersetzt sich hier und da den Konventionen und Erwartungen ihrer Umgebung.
Neue Wege und neue Bücher
Auf ihren Wegen trifft Juliette den kauzigen Soliman und seine Tochter Zaïde. Sie beide leben in einer großen Bücherhalle. Soliman hat es sich quasi zur Lebensaufgabe gemacht, Bücher unter die Menschen zu bringen. Juliette wird ihm dabei helfen.
Bald wird auch sehr deutlich, dass das “Mädchen, das in der Metro las” nicht eben nur Bücher liest, sondern vor allem Menschen.
Und hier kommen wir zu einem entscheidenden Punkt des Buches: es geht nicht allein um fiktive Geschichten und deren Unterhaltungswert. Die Botschaft lautet, dass Literatur von Menschen für Menschen gemacht ist. Diesen Gedanken sollten wir nochmal kurz auf uns wirken lassen.
Bücher haben immer mit Menschen zu tun und indem wir ein Buch lesen, lernen wir vieles über andere Menschen, über uns selbst und über das Leben. Wir erleben die Welt in einem Buch. Es gibt so einen Spruch, der besagt, dass Menschen, die niemals reisen, immer nur eine Seite von einem dicken Buch lesen. Aber dieser Sinnspruch lässt sich aus meiner Sicht auch umdrehen: Menschen, die viele Seiten lesen, reisen weiter und sehen mehr, als wir das in Person mit Koffer und Flugzeug jemals schaffen können.
Bookcrossing und Bibliotherapie
“Der nächste Kurier […]. Er muss einen Leser für die Bücher aussuchen. Oder eine Leserin. […] Man teilt jemandem ein Buch nicht einfach so aus Trotz oder einer Laune heraus zu oder weil man jemanden provozieren oder beunruhigen will, es sei denn, das geschieht absichtslos. Meine Kuriere besitzen großes Einfühlungsvermögen: Sie spüren in ihrem tiefsten Innern, welche Enttäuschungen und welcher Groll sich in einem menschlichen Körper verbergen, den auf den ersten Blick nichts von anderen unterscheidet.”
Jetzt sitze ich hier schon mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, denn dieser Roman verbindet auf feinsinnige und elegante Weise die zwei größten bibliophilen Leidenschaften in meinem Leben: Bibliotherapie und Bookcrossing. Die Idee, Bücher immer wieder in Umlauf zu bringen, aber ganz gezielt und immer das richtige Buch für die jeweilige Person – das ist Musik in meinen Ohren.
“Man lehrt uns Misstrauen, überlegte sie, während sie gegen den schweren Torflügel drückte, der sich langsam aufschob, als habe er keine rechte Lust dazu. Immer denkt man gleich das Schlimmste. Es geht darum, anderen Menschen Bücher zu geben, damit es ihnen im Leben besser geht – wenn ich es recht begriffen habe …”
Die Autorin Christine Féret-Fleury ist Französin. Während Bookcrossing hierzulande verbreiteter ist als in Frankreich, ist die Bibliotherapie im französischen Selbstverständnis besser verankert als im deutschsprachigen Raum.
Bücher und Menschen müssen reisen
Für Juliette, die oft lesend in der Metro saß und dabei andere lesende Menschen beobachtete, sind weder Bookcrossing noch Bibliotherapie selbstverständlich. Zumindest nicht zu Beginn ihrer bibliophilen Reise. Doch immer mehr verstrickt sich Juliette in die Geschichten und Bücher und muss sich zuletzt sogar noch den Rat geben lassen, dass ein Leben nur in Büchern ebenso ungesund sei, wie ein Leben komplett ohne Bücher:
“Gehen Sie raus an die frische Luft, Juliette, lassen Sie sich den Wind um die Nase wehen. Lauschen Sie ihm. Sie haben viel zu lange ihre Nase nur in Bücher gesteckt. […] Bücher und Menschen müssen reisen.”
Ich danke der Autorin Christine Féret-Fleury für diese feinsinnige und lebensphilosophische Lektüre, die meiner Leidenschaft für Menschen und Literatur bis ins Kleinste entspricht. Ich danke ihr für eine Geschichte voller Freundschaft, Verlust, Liebe, Selbstfindung und Träume.
“Das Mädchen, das in der Metro las” ist ein Buch über das Leben.