Du darfst vor allem nicht resignieren!
Welche Bilder entstehen jetzt vor deinem inneren Auge? Fühlt sich das für dich nach Freiheit an? Oder hat es vielleicht eher etwas Bedrohliches? Für Ruth, die Protagonistin in Anita Brookners Roman “Ein Start ins Leben” bedeutet der Umzug von London nach Paris vor allem Freiheit, Neustart und Selbstverwirklichung. Aber nicht nur das; Ruth flieht auch vor der drohenden Resignation, die sich in ihrem Leben ausbreitet.
“Ein Start ins Leben”
Der englische Schiftsteller Julian Barnes schrieb in seinem eindrucksvollen, intimen Vorwort zu “Ein Start ins Leben” über Anita Brookner: “Eine Autorin, die man nur allzu leicht mit ihren Protagonistinnen verwechselte”. Anita Brookner war wohl nicht nur Kollegin für ihn, sondern auch gute Freundin und ein bisschen bewunderte er sie und ihren starken Charakter. Ich muss zugeben, dass es mir leicht fällt, nach der Lektüre klare Parallelen zwischen Autorin und Protagonistin auszumachen. “Ein Start ins Leben”, ihren Debütroman, verfasste die einflussreiche Kunsthistorikerin bereits in den 80er Jahren.
2018 wird er nun im Eisele-Verlag neu aufgelegt. Bereits nach dem Vorwort bin ich mir sicher, dass hier eine sehr besondere Frau schreibt und der Roman ein Gewinn für mich sein wird. Ich wurde nicht enttäuscht.
Toxische Beziehungen und die Sehnsucht nach dem Leben
Der Rahmen, in dem Ruth als Kind aufwächst, lässt sich als toxisch beschreiben. Von ihrer Mutter nicht gewünscht – da schädlich für deren Schauspielkarriere – wird das schüchterne Mädchen vor allem von ihrer Großmutter erzogen, die schweigsam und nachdenklich ist. Ihre Eltern sind sehr mit sich und ihrem Ego beschäftigt. Ehrliche Zuneigung, Anerkennung und Aufmerksamkeit – wie es jedes Kind braucht – bleiben somit auf der Strecke. Ruth bekommt schnell den Eindruck, dass sie nicht wichtig ist. Zumindest nicht für die Menschen, die sie umgeben und die für sie wichtig sind.
Wer jetzt glaubt, dass sich daraus ein harter Charakter voller Gefühlskälte und Verschlossenheit entwickelt, irrt. Ruth liest Bücher und erhält besonders durch die vielen Geschichten, die sie in sich aufnimmt, die Hoffnung auf ein schöneres, aufregenderes Leben. Sie bleibt aufgeschlossen, mutig und leider auch ein gutes Stück naiv. Denn statt selbstbewusst ihren Weg zu gehen, sind es immer wieder egoistische und selbstbezogene Menschen, auf die sich Ruth einlässt. Auch die schädlichen Bande zu ihren Eltern löst Ruth leider nicht auf. Selbst nach ihrem Umzug nach Paris bleibt das Gefühl der Verantwortung und Pflicht stärker als der Drang nach Freiheit. Die strengen, anerzogenen Routinen beherrschen sie und ihr Denken.
“Sie war eine Gefangene in ihrer Zelle, und zusätzlich zu ihren äußerlichen Zwängen hatte sie sich in einen festen Tagesablauf eingesperrt, der jegliche Freiheit und Impulsivität so nachhaltig unterdrückte, als wäre er ihr von einem Polizeistaat auferlegt worden. Jeden Morgen fuhr sie mit demselben Bus in die Bibliothèque Nationale. Jeden Mittag aß sie ein Sandwich in demselben Café. Jeden Abend tauchte sie zu ihrem Bad auf und kehrte dann frierend in ihr Zimmer zurück, wo sie die Probleme wachsender Einsamkeit erwarteten, wie ihr allmählich klar wurde.”
Es braucht eine Zeit, bis Ruth in ihren eigenen Routinen ertrinkt. In gewisser Weise hatte sie vielleicht auch schon resigniert und sich der Langeweile und der Gleichgültigkeit ihres Daseins ergeben. Sie kann das zwar reflektieren, aber nur sehr allmählich Konsequenzen für sich ziehen.
“Wenn der moralische Code korrekt war, den die Literatur sie gelehrt hatte und die sie jetzt neu zu interpretieren begann, hätte sie ja großen Erfolg haben müssen in ihrem schweren unvorteilhaften Mantel, in ihrer fleißigen Einsamkeit, mit ihren Notizen und ihrer täglichen Busfahrt und den gesunden einsamen Spaziergängen.”
Mit der Zeit werden ihre Zweifel an diesem moralischem Code größer und der Drang nach Leben keimt in ihr auf: “Ruth, die das alles größtenteils instinktiv wusste, begann die Welt aus der Perspektive des Balzac’schen Opportunismus zu betrachten. Ihre Einsicht wuchs. Sie begriff, dass die meisten moralischen Erzählungen falsch lagen, dass auch Charles Dickens falsch lag, und dass man die Welt nicht durch Tugend gewinnt.”
Mit Zuversicht und Hoffnung in die Welt
Die tugendhafte Ruth ist auch dann noch tugendhaft und großherzig, wenn sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann eingeht. Sie steht in starkem Kontrast zu ihren Mitmenschen, die immer irgendwie seltsam anmuten. Ruth wehrt sich nicht gegen die schlechte Behandlung durch ihre Freunde und ihre Familie. An mancher Stelle scheint es sie sogar kaum zu stören, denn sie hat schließlich nie zwischenmenschliche Wertschätzung erhalten. Wie soll sie diese dann auch vermissen?
Die bereits angesprochenen toxischen Beziehungsmuster wiederholen sich in ihrem Leben. Trotz aller Möglichkeiten, die sich ihr bieten und trotz der Zuversicht, die sie aus der Literatur geschöpft hat, resigniert Ruth zunehmend. Ihre Introvertiertheit und ihre Unfähigkeit die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, werden ihr zum Verhängnis. Ich kann beim Lesen nicht anders, als immer wieder den Kopf zu schütteln und manchmal sogar die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen.
Ich fühle große Enttäuschung, aber auch Mitgefühl. Wer “Ein Start ins Leben” liest, sieht vielleicht nüchterner, wie es um viele zwischenmenschliche Beziehungen steht, aber auch klarer. Das Bedürfnis nach Selbstfürsorge und gesundem Egoismus wächst mit jeder Seite.
Ein Stückchen Rebellion
Manche Passagen im Buch haben mich ein bisschen wehmütig gemacht, weil ich selbst auch mit Anfang zwanzig nach Paris “geflüchtet” bin, um dort etwas von der Welt zu sehen. Es tut so gut auf diese literarische Weise in die bekannten Parks und Museen entführt zu werden, an die so viele wundervolle Erinnerungen geknüpft sind. Dabei romantisiert Brookner Paris in keiner Weise.
Wir erleben hier nicht die verklärte Idylle einer “Stadt der Liebe”, die sicher zahlreiche andere Romane schmückt. Trotzdem hat die Stadt einen positiven Einfluss auf Ruth. Paris besitzt diese elegante Strenge, die Ruths Selbstbewusstsein stärkt und in ihr ein Stückchen Rebellion auslöst.
“Egoismus und Gier und Arglist und Extravaganz hatten sie in dieses Bild einer selbstsicheren, attraktiven Frau verwandelt, hatten das Wunder bewirkt und sie gezwungen, erwachsen zu werden und sich auf kompetente Art mit der Welt auseinanderzusetzen. Die Leute schienen sie mehr zu mögen, seit sie so war.”
Egoismus, Gier und Arglist mögen zwar keine positiven Attribute sein, man kann sie Ruth jedoch nicht verdenken und zumindest ich hätte mir am Ende ihrer Reise ein Stückchen mehr (viel mehr!) von dem allen für sie gewünscht.