5 Gründe, warum auf sich zu achten nicht heißt, nur noch Heile-Welt-Literatur zu lesen
Gastartikel von Tamara SchopkaEine Frau hängt von der Decke, an den Beinen gefesselt. Der schwarz gekleidete Mann neben ihr packt in Ruhe seine Werkzeuge aus. »Shhh,« flüstert er. »Wenn sie aufwacht, töte ich sie.« Dabei zeigt er auf das schlafende Mädchen am Boden.
An dieser Stelle klappe ich das Buch zu. Das Leben ist schon hart genug, das brauche ich mir nicht auch noch anzutun.
Stimmt. Aber wann ist es gesunder Selbstschutz und wo verpassen wir etwas, wenn wir die Augen vor den dunklen Seiten der Literatur verschließen? Hier sind fünf gute Gründe, warum du der Welt der Wohlfühlliteratur ruhig einmal den Rücken kehren solltest.
Erstens: Konflikte schaffen Spannung.
So weit wir unsere Fantasie auch schweifen lassen, Bücher sind immer ein Abbild der Welt um uns herum. Und die ist nicht perfekt. In der Literatur ist das auch gut so. Stellen wir uns einmal ein Buch mit folgendem Plot vor:
Hannah ist erfolgreich in ihrem Job. Sie kommt gut mit ihrem Chef aus und ist bei den Kollegen beliebt. Sie hat einen Mann, der sie über alles liebt. Die beiden wollen heiraten, was alle für eine gute Idee halten.
Würdest du so ein Buch lesen wollen? Wohl kaum! Es fehlt der Konflikt, das, was die Handlung vorantreibt. Erst wenn wir mit einer Figur zusammen leiden, ihr dabei zusehen, wie sie Hindernisse meistert und Rückschläge durchlebt, kommen wir ihr wirklich nahe und können uns mit ihr identifizieren. Das ist eine Grundregel, die jeder Autor beherrscht, der seine Leser bei der Stange halten will: ohne Konflikt geht es nicht.
Zweitens: Nur aus Schwierigkeiten lernen wir.
Wenn wir uns in der Literatur mit den Schattenseiten des Lebens auseinandersetzen, bringt uns das auch im Alltag weiter. Die Herausforderungen unserer Romanhelden bieten uns die Chance, selbst zu wachsen. Wir tüfteln mit ihnen an Lösungen, erleiden Rückschläge und rappeln uns wieder auf. Das stärkt fürs echte Leben.
Ein Beispiel: Selbst wenn die Meisten von uns wohl nie mit so vielen Mordfällen konfrontiert werden wie ein Sherlock Holmes, können wir uns doch seine Beobachtungsgabe abschauen und die unbestechliche Logik seines Denkens.
Drittens: Auch über Schattenseiten muss gesprochen werden
Dieser Aspekt wird leider viel zu oft vergessen. Unser Leben besteht nun einmal nicht nur aus Sonnenschein, aber unserer Gesellschaft scheint die Fähigkeit abhandengekommen zu sein, offen darüber zu sprechen. Glaubt man den Selbstdarstellungen auf Klassentreffen oder in sozialen Netzwerken, sind alle um uns herum erfolgreich, mit perfekten Familien gesegnet und dennoch erfüllt und ausgeglichen. Für Scheitern, Krankheit oder Verlust ist hier kein Platz. Wir fühlen uns als Versager, wenn es uns nicht genauso geht. Gerade deshalb kann es guttun, wenigstens in der Literatur Menschen zu begegnen, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Viertens: Auch düstere Gedanken brauchen ihren Raum
Alle Geschichten lassen sich auf das Prinzip von »was wäre, wenn … » reduzieren. Was wäre, wenn ein Waisenjunge plötzlich entdecken würde, dass er Zauberer ist? Was wäre, wenn ein Horrorclown in einer amerikanischen Kleinstadt sein Unwesen treiben würde? In der Literatur können wir Autoren auch die Szenarien weiterdenken, die gesellschaftlich nicht erlaubt oder in der Realität nicht gewünscht sind. Und so unsere dunklen Seiten ausleben, die jeder von uns nun auch einmal hat.
Während wir es uns im Alltag angewöhnt haben, ungewollte oder nicht gesellschaftsfähige Gedanken beiseite zu schieben, bietet Literatur uns die Möglichkeit, den weniger ausgetretenen Gedankenpfaden zu folgen, dem Unkonventionellen oder sogar dem Unsagbaren. Auch deshalb schreiben so viele Menschen autobiografisch oder füllen täglich »Morning Pages«, um ihre Gedanken ungefiltert zu Papier zu bringen und daraus neue Perspektiven zu gewinnen.
Fünftens: Wir ziehen Lehren für die Wirklichkeit
Fiktion birgt die Chance, Szenarien zu durchleben und aus ihnen zu lernen, ohne dass sie eintreten müssen. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Margaret Atwoods »Handmaid’s Tale«. Wie würde eine Zukunft aussehen, in der Frauen auf ihre Fruchtbarkeit reduziert werden und ihre Rechte verlieren? Wir lernen, wie es so weit kommen konnte und was die gesellschaftlichen Anzeichen für einen solchen Wandel sind. Dass in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern immer wieder Frauen als Handmaids verkleidet demonstriert haben zeigt, wie weit die Macht der Literatur hier geht.
Harter Tobak in der Literatur kann uns also durchaus weiterbringen, als Individuen und als Gesellschaft. Aber wie viel davon darf es nun sein?
Was ist mit der Folterszene vom Anfang? Sollten wir sie uns zumuten, um abzuhärten, obwohl uns schon beim Lesen schlecht wird? Nein! Du allein entscheidest, wo deine Grenzen sind und wie viel Leid, Hass und Gewalt du dir zumuten möchtest. Dabei solltest du gut auf deinen inneren Sensor hören. Denn für das Emotionszentrum unseres Gehirns macht es keinen Unterschied, ob wir etwas real durchleben oder in einem Buch lesen.
Fazit: Weder als Autoren noch als Leser sollten wir uns einschränken, indem wir uns ausschließlich der sogenannten Heile-Welt-Literatur verschreiben. So können wir erfahren, was es heißt, mit unseren Helden zu wachsen, fiktive Leidensgenossen zu finden und neue Seiten an uns zu entdecken. Wie weit du dabei gehen willst, ist deine Sache.
Gastautorin Tamara Schopka
Tamara Schopka schreibt als Teil der Münchner Autorengruppe Arbeitstitel, kurz AgAti. Gemeinsam haben sie letztes Jahr den Kurzgeschichtenband „Verloren im Alltag“ veröffentlicht. Ihr eigenes Romanprojekt handelt von einer Stadt, in der das Glück zum Zwang wird. Ihre oft dystopischen Texte zeigen, wie wir leben – oder in absehbarer Zeit leben könnten. Der Fokus liegt dabei nicht auf den technologischen Veränderungen, sondern auf den Menschen, ihren Handlungen und Entscheidungen.