Dieser Baum kann ein Bild für viele Vorgänge im Leben sein und wird aufgrund seiner symbolischen Bedeutung zum Beispiel manchmal am Hochzeitstag gepflanzt.
In diesem Zusammenhang steht er für Liebe, Fruchtbarkeit und Treue. Er bietet Schutz und Gastfreundschaft. Und er strahlt Ruhe und Geborgenheit aus. Wälder bieten Zuflucht und Entspannung. Der Waldspaziergang hat fast immer auch etwas meditatives.
Als ich noch klein war und auf dem Land groß geworden bin, waren Bäume allgegenwärtig. Da gab es Apfelbäume auf dem Hof, Kastanien im Dorf und hin und wieder sind wir mit der ganzen Familie zu den Ivenacker Eichen gefahren.
In diesem Park stehen über 1000 Jahre alte Eichen, die wahnsinnig dicke Stämme haben und jede für sich eine Geschichte erzählen.
Natürliches Wachstum im Hinterhof
Im Roman “Ein Baum wächst in Brooklyn” von Betty Smith kommt schnell die Vermutung auf, dass der Baum im Titel eben für unsere Hauptfigur Francie steht.
Es ist Francie, die in Brooklyn aufwächst. Sie erzählt uns von diesem Baum im Hinterhof, der den für natürliches Wachstum denkbar schlechtesten Bedingungen ausgesetzt ist.
Trotzdem wächst und gedeiht dieser Baum als wüsste er nicht, dass die Welt da draußen – außerhalb seines Hinterhofes – anderen Bäumen viel schönere Plätze zugedacht hat.
Ich habe “trotzdem” geschrieben und bin nicht sicher, ob ich damit “genau deshalb” meine. Darauf komme ich gleich nochmal zu sprechen.
Wir sind alle ein bisschen Francie
Ich möchte erstmal von Francie erzählen und davon welche Kraft und Inspiration in diesem kürzlich neu aufgelegten Roman liegt.
Wer, wie ich das getan habe, ein wenig über die Autorin Betty Smith recherchiert, wird schnell gewahr, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte mit starken autobiographischen Elementen handelt.
Betty Smith, geboren 1896 als Elizabeth Lilian Wehner, beendete ihren ersten Roman 1943 und landete einen Bestseller. Wenige Jahre später erschien “Ein Baum wächst in Brooklyn” auch in Deutschland und wurde kürzlich neu übersetzt.
Sehr gelungen, wie ich finde. Und völlig zu recht neu aufgelegt.
Es ist ein dickes Buch und die Zeit, die ich mir dafür nehmen musste, lohnt sich.
Francie ist nicht einfach irgendein Mädchen, das sich aus ärmlichen Verhältnissen herausarbeitet und es im Leben zu etwas bringt.
Francie Nolan ist dieser Baum, der allen Hindernissen zum Trotz wächst und gedeiht und etwas erschafft, das anderen Menschen Hoffnung, Zuversicht und Geborgenheit bietet.
Dieses Buch hat mich tief berührt. Wer war diese Francie Nolan?
Im Buch finden wir folgende Aussage: “Sie war die Bücher, die sie in der Bücherei las. Sie war die Blume in der braunen Schale. Ein Teil ihres Lebens bestand aus dem Baum, der im Hinterhof üppig spross. Sie war die bitteren Streitereien, die sie mit ihrem innig geliebten Bruder hatte. Sie war Katies heimliches, verzweifeltes Weinen. Sie war die Scham ihres Vaters, wenn er betrunken nach Hause wankte.”
Ich finde es wunderbar, dass dieses Zitat mit den Büchern beginnt, die Francie Tag für Tag regelrecht aufsaugt. “Ein Baum wächst in Brooklyn” ist ein bibliophiles Werk, welches Lesen und Bildung immer wieder zum Gegenstand macht und aufzeigt, dass eben darin das Geheimnis von Erfolg liegt.
Es geht dabei nicht in erster Linie um finanziellen Erfolg – auch wenn Armut und die damit verbundenen Übel eine wichtige Rolle im Roman spielen.
Kurz nach der Geburt von Francie wendet sich ihre Mutter Katie an ihre eigene Mutter Mary.
Die Geburt war sehr qualvoll und die Sorgen um das kleine Wesen, das gerade das Licht der Welt erblickt hat, wachsen in dem Maße wie der Vater Johnny die Familie ohne schlechten Willen im Stich lässt.
Katie möchte mehr für ihre Tochter als sie selbst hatte und bittet ihre Mutter um Rat. Sparen ist der eine Rat, den sie bekommt. Sparen und irgendwann einmal ein kleines Stückchen Land kaufen, das die Kinder erben können.
Der zweite Rat wiegt schwerer. “Dann muss es jeden Tag lesen, und das ist das Geheimnis, das weiß ich.”
Es handelt sich um ein sehr bedeutendes Gespräch. Es geht an dieser Stelle im Buch um Bildung und mit ihr um Möglichkeiten. Nicht einfach weil ein Schulabschluss Türen öffnet.
Es geht um viel mehr.
Es geht darum, diese Möglichkeiten kennenzulernen, Horizonte zu erweitern und Perspektiven offen zu legen.
“Weil das Kind etwas Wertvolles braucht, was man Phantasie nennt. Das Kind braucht eine geheime Welt, in der Dinge leben, die es nie gegeben hat.”
An einer anderen Stelle im Buch erklärt Katie ihrer Tochter Francie, dass sie zwar arm sind wie alle anderen im Viertel, dass sie aber dennoch besser seien, denn sie würden die Dinge verstehen.
Hindernisse und Desillusionierungen
Mit diesen “Dingen” ist das Leben gemeint und viele Vorgänge, die unreflektierten Menschen verborgen bleiben. Ich möchte jetzt auf das “trotzdem” zurück kommen, das ich eingangs erwähnte.
Francie geht durch die harte Schule des Lebens.
Wir verfolgen ihren Weg seit der Geburt und lernen ihre Tanten (Sissy schließt man sofort in sein Herz) und den Rest der Familie kennen.
Wir ertragen alle Hindernisse und Desillusionierungen mit ihr, als wären wir dieses Mädchen, das Bücher zu ihren wahren Freunden erklärt. Der Aufbruch in ein besseres Leben vollzieht sich jedoch nicht nur trotz der Hindernisse.
Er vollzieht sich, weil Francie all diese Hindernisse erlebt hat und die Welt deshalb mit anderen Augen sieht. Den Satz ihrer Mutter “Wir können nichts anderes werden als das, was wir heute sind” straft Francie Lügen. Sie ist stark aufgrund und eben nicht nur trotz der Dinge, die sie durchgemacht hat.
Mit ihnen sind ihre Empfindungen gewachsen und ihre Motivation ihrem Leben Sinn zu verleihen.
Es ist wahrlich nicht einfach unsere ganz persönliche Angst vor den eigenen Grenzen zu überwinden.
Unsere Eltern, die Gesellschaft und wir selbst schüren Erwartungen, die tief eingesickert sind in unser Wesen und die nicht mal eben aus der Welt zu schaffen sind.
Umso wichtiger, dass es diese Kräfte gibt, die uns helfen uns zu sammeln, zu reflektieren und zu motivieren.
“Ein Baum wächst in Brooklyn” ist ein kraftvoller Roman, der dir Lust machen wird, Neues auszuprobieren, Mut zu beweisen und Dinge zu tun, die dir andere und du selbst vielleicht gar nicht zugetraut haben.
Danke, Betty Smith, für dieses grandiose und leidenschaftliche Lebenswerk.