Breaking the Cycle: Den Kreislauf familiärer Gewalt durchbrechen
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Titel: Liebe ist gewaltig
Autorin: Claudia Schumacher
Verlag: dtv
Familiäre Gewalt ist kein Einzelfall, sondern ein System. Sie ist ein stiller Abdruck in Biografien, der in Körpern, Beziehungen und Selbstbildern nachwirkt. Und doch fehlt oft die Sprache, um sie zu fassen, oder der Mut, sie auszusprechen.
Ungeplante Wege, innere Prozesse
Als digitale Nomadin bin ich es gewohnt, mich ständig auf Veränderungen einzulassen. Aus dem geplanten Monat Genua wurde dieses Frühjahr ein gemeinsamer Kurztrip mit meinem Bruder, gefolgt – dann aber wieder allein – von einem spontanen, chaotischen Flixbus-Roadtrip durch Italien. Ich beschwere mich nicht. Mein Leben ist oft unberechenbar, aber erfüllt. Sicherheit suche ich längst nicht mehr nur im Außen, sondern zunehmend in mir selbst. Doch dieser innere Weg war lang, begleitet von Therapie, Rückschlägen und Selbstermächtigung.
Als ich so unter den Palmen von Genua saß und auf meinen Bruder wartete, hörte ich das Hörbuch Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher. Nach wenigen Kapiteln war klar: Das wird keine leichte Reise. Ich weinte und war wie benommen. Es fühlte sich krass retraumatisierend an.
Deshalb gleich zu Beginn: eine Triggerwarnung für diesen Text und für das Buch. Es enthält explizite Szenen psychischer und physischer Gewalt. Die familiäre Atmosphäre ist durchgehend bedrohlich. Wenn du selbst Erfahrungen mit Trauma gemacht hast, kann die Lektüre tief aufwühlen. Ich selbst konnte damit umgehen, weil ich mich schon viel mit meiner Geschichte beschäftigt habe. Aber wenn du da noch unsicher bist: Hol dir bitte Unterstützung. Du bist es wert.
Wie “Liebe ist gewaltig” den Kreislauf familiärer Gewalt literarisch durchbricht
Unsere Protagonistin Juli lebt in einem Haus, in dem alles stimmt und nichts stimmt. Nach außen: wohlsituiert, leistungsstark, funktional. Innen: Gewalt, Kontrolle, permanente Bedrohung. Der Vater ist gesellschaftlich anerkannt und gleichzeitig der Aggressor. Die Mutter sieht weg, hält dabei die Fassade aufrecht. So lernt Juli früh, was es heißt zu funktionieren, nicht zu fühlen, sich selbst zu verlassen, um da zu bleiben.
“Als ich vierzehn war, artete trotzdem alles in rohe Gewalt aus. Papa hat mich durchs Haus gejagt und gedroht, mich umzubringen. Einen Grund gab es nicht, glaube ich. Wobei, doch: Manchmal habe ich gelacht.”
Erinnerung, Scham, Selbstermächtigung
Claudia Schumacher findet für diese Unsagbarkeit eine Sprache, die aufrüttelt, manchmal fast stakkatohaft, dann wieder nüchtern, abgründig genau. Ohne literarische Weichzeichner. Ihre Worte sind beinahe selbst wie Schläge. Der Text lässt keine Distanz zu, drückt einen hinein in den inneren Zustand der Figur, mittendrin.
Julis Entwicklung bietet keinen linearen Aufstieg, nicht den Weg ins Licht, nach dem wir uns vielleicht sehnen. Stattdessen ist da Kreisen, Abtasten, Wegbrechen und Wiederanpassen. Ihre Überlebensstrategien sind subtil und bestimmt kennst du einige davon: Schweigen, Überanpassung, Alkohol, Selbstsabotage. Lange wirkt sie wie eingefroren im System, obwohl sie längst nicht mehr dazugehört. Es gibt aber immer wieder Momente der Reibung, erste Risse im System. Alles beginnt mit Irritation. Erst später kommt Sprache dazu.
Psychische Gewalt erkennen – literarisch und gesellschaftlich
Nichts an diesem Prozess ist geradlinig: Rückfälle, Zweifel, das ständige Gefühl, vielleicht doch übertrieben zu haben, vielleicht doch schuld zu sein. Die Schuld sitzt tief. Das ist das Perfide an familiärer Gewalt: Sie verschiebt die Verantwortlichkeit, legt sie dorthin, wo sie nicht hingehört. Auf das Kind. Auf Juli. Dort bleibt sie lange: als Selbsthass, als Fremdheit im eigenen Körper und als permanente Rechtfertigung.
Es ist gleichgültig, ob die Gewalt körperlich, emotional oder strukturell ist. Sie verändert dich. Sie schreibt sich ein in deine Biografie und in die Art, wie du dich selbst siehst. Du wirst nicht nur verletzt. Du wirst von Scham, Misstrauen und Schuld besetzt. All das gehört nicht dir, aber es fühlt sich an, als wäre es deins. Und das ist der eigentliche Schmerz, der bleibt.
Bücher als Werkzeuge der Selbstermächtigung
Schafft Juli damit zu brechen? Kann ich das hier verraten, ohne zu spoilern? Ich tu es einfach. Ja. Nicht spektakulär und nicht hollywoodreif, aber leise, klar, entschlossen. Juli geht. Oder vielleicht: Sie hört auf, zu bleiben. Das ist der Anfang eines Prozesses, der lange dauern wird. Aber irgendwo muss sie anfangen.
“Keiner sagt was. Wie Mama, die immer nur dasaß, wenn zur Abwechslung mal ich von meinem Kummer erzählt habe, ungefiltert, und nicht sie. Keine Reaktion.”
Am stärksten ist dabei vielleicht nicht der Moment der Abgrenzung, sondern das, was danach kommt: Die Rückeroberung. Die vorsichtige Frage: Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr aufhöre zu fühlen? Wenn ich mich nicht mehr schütze durch Rückzug, durch Alkohol, durch Angepasstheit? Schumacher zeigt diesen Prozess mit großer Genauigkeit, ohne Pathos und Erlösungsversprechen. Heilung? Vielleicht. Aber vor allem geht es um Wiederaneignung.
Sprechen statt Schweigen.
In Genua war ich das letzte Mal als Kind. Mein Bruder und ich wurden hier, unter genau diesen Palmen, stundenlang allein gelassen, während unser Vater irgendwo versuchte, einen seiner Wutausbrüche zu regulieren. Ich erinnere mich an die Ruhe, die wir damals spürten. Nicht, weil wir sicher waren, sondern weil gerade niemand da war.
Das Gefühl, mit unseren Eltern sicher zu sein, kannten wir schon lange nicht mehr.
Ich weiß, das ist sehr persönlich. Vielleicht denkst du: zu persönlich für diesen Artikel. Aber genau das schafft dieses Buch: die Scham überwinden, die Trauer benennen. Die Grenzüberschreitungen nicht weiter mit sich herumtragen, sondern hinschauen, aufarbeiten, loslassen. Auch wenn das sehr, sehr schwer ist.
Lesen, um zu verstehen und Literatur weiterwirken lassen
Ich verrate dir schon mal, dass mir persönlich der Text nicht die gewünschte Katharsis brachte. Es ist kein Buch, das tröstet. Es benennt. Ich möchte dich nicht „triggern“, sondern ermutigen. Was auch immer du erlebt hast: es war nicht deine Schuld. Du darfst den Zyklus durchbrechen.
Liebe ist gewaltig ist kein Wohlfühlroman. Kein dickes Happy End. Kein “am Ende wird doch alles gut.” Dennoch bin ich dankbar für jedes dieser Worte.
Weil das Schwerste die Sprachlosigkeit ist und Schumacher hilft, genau diese Sprachlosigkeit literarisch zu durchbrechen. Eindrucksvoll und ja, gewaltig.