Was ist Einsamkeit?
Einsam ist jemand, der sich sozial isoliert fühlt. Einsamkeit ist auch der Name einer unbewohnten russischen Insel. Und wenn du bei Wikipedia die ersten Sätze liest, die “Einsamkeit” definieren, dann wird zwar eingeräumt, dass der Begriff oft negativ konnotiert wird, aber – und das finde ich sehr erfreulich – auch die positiven Aspekte finden Erwähnung.
Gedanken ordnen und Kreativität entwickeln wird dort beispielsweise genannt. Manchmal entscheiden wir uns für Einsamkeit, um Klarheit zu gewinnen, zu uns selbst zu finden, etwas zu genießen, das nicht durch den Einfluss unserer Mitmenschen verfälscht wird.
Einsamkeit kann somit ein Verhängnis sein, oder eine selbstgewählte Phase.
Ein bisschen zwischen beiden Seiten verstehe ich den Roman “Das ganze Leben da draussen” von Nina Sahm. Die Handlung spielt auf Island und nach Sibirien kann ich mir keine bessere Region vorstellen, die ausdrucksstärker ein Gefühl von Einsamkeit widerspiegelt.
Ich war aber noch nie dort und entschuldige mich, wenn ich mich mit dieser Behauptung zu weit aus dem Fenster lehne. Island soll ein wunderschönes Land sein und in unserem heimischen Bücherregal steht die Gesamtausgabe von Hálldor Laxness (ich habe sie nur noch nicht gelesen).
Alfa und Elín
Die beiden Frauen um die es geht, Alfa und Elín, sind Außenseiterinnen.
Teilweise nehmen sie diese Rolle bewusst ein, es ist aber nicht ganz klar, inwiefern ein gewisser Trotz im Wesen der Figuren über den unfreiwilligen Kampf mit der Einsamkeit hinwegtäuschen soll. Es ist ein Kampf mit der Einsamkeit, aber auch mit der Umwelt.
Betrachten wir beide einmal genauer. Die 16-Jährige Elín lebt ihre Pubertät aus. Sie provoziert die entspannten Eltern und leidet an ihrem Dasein. Ihr bester Freund hat sich mit ihrem größtem Feind verschworen; Bäume, die ihr am Herzen liegen, wurden gefällt und der Unterricht interessiert sie nicht.
Alfa ist ihre Lehrerin. In einem Gespräch mit Alfas Bruder, der noch nicht weiß, dass es um seine Schwester geht, erzählt Elín:
“Meine Lehrerin bekommt rote Flecken am Hals, wenn ein Schüler sich widersetzt. Sie verknotet ihre Beine, wenn sie an der Tafel steht und uns etwas erklären soll, und dann bin ich so abgelenkt, dass ich ihr nicht mehr zuhören kann. Sie ist irgendwie in ihrer eigenen Welt, es kommt mir so vor, als ob wir für sie in einer Glaskugel sitzen, und wie es uns wirklich geht und was für uns wichtig ist, dringt überhaupt nicht zu ihr durch, weil sie so sehr mit sich selbst beschäftigt ist.”
Diese Einschätzung von Elín gibt so ziemlich die Stimmung wieder, die das Buch für mich hat.
Wir können manchmal sehr zielgenau einschätzen, dass unser Gegenüber nicht in der Lage ist, unsere Einsamkeit und Probleme zu erkennen. Wir machen uns aber im Gegenzug auch oft nicht die Mühe die andere Seite auszuleuchten.
Zu erkennen, dass der oder die andere mit sich selbst beschäftigt ist, ist dann oft schon eine Leistung.
Insgesamt lebt dieser Roman von einer Vielzahl an klugen Beobachtungen und treffenden Beschreibungen. Die Geschichte fand ich schön, nachvollziehbar und einnehmend, aber die Fülle an Gedanken und einzigartigen Formulierungen sind wahrlich beachtlich.
Bei Sahm verbindet sich schriftstellerisches Talent mit echtem Verstehen.
Einige Autoren und Autorinnen konstruieren Charaktere, die dann eben auch konstruiert wirken, weil sie erdacht sind und eine bestimmte Funktion erfüllen sollen. Nina Sahms Texte hingegen sind sehr gut recherchiert und kommen mit einer Authentizität daher, die mich (und ich entschuldige mich schon jetzt für diese Aussage) bei einer so jungen Frau überrascht und in gleicher Weise fasziniert.
Manche Autorinnen sucht man im Netz vergeblich, andere hingegen sind leicht auffindbar. Und Nina Sahm gehört glücklicherweise zu den Letzteren. Die Schriftstellerin, die für ihren Broterwerb auch Werbetexte für große Unternehmen verfasst, betreibt mit Elan die ganze Bandbreite der Social Media Kanäle: Facebook, Instagram und sogar auf Twitter tweetet die junge Münchner Autorin vor sich hin.
Warum erwähne ich das?
Nina Sahm geht mit der Zeit und das spiegelt sich auch in ihren Geschichten wieder. Mich würde sehr interessieren, welchen realen Figuren die Wesenszüge von Alfa und Elín nachempfunden sind.
Ich glaube an die Macht der Phantasie, aber manches muss man doch erlebt haben, um so lebensecht zu beschreiben wie zum Beispiel das Frühstück matschig wird: ”Elín rührte mit dem Löffel in ihrer Müslischale, bis die Cornflakes so viel Milch aufgesogen hatten, dass sie ihre Form verloren und zu einem schleimigen Brei wurden.”
Elín und Alfa sind auf ihre Art einsam, es geht aber auch darum, einen Helden zu haben und diesem Raum für Inspiration zu geben.
Das ist für Alfa ihr Großvater Magnús und für Elín der Fuchs, der um Reykjavík herumstromert und dessen Spuren sie folgt.
Die zunehmende Demenz von Magnús bedrückt. Für Alfa war er die wichtigste Person in ihrem Leben und als er sich das Leben nimmt, ist sie gezwungen selbst zu ihrer Stärke zu finden. Magnús hatte sie unterstützt, motiviert und geschoben. Ohne ihn fehlt ihr die Richtung.
Eine Richtung sucht auch Elín. Ein Fuchswaise wurde um Reykjavík herum gesichtet und die naturliebende Elín begibt sich auf seine Spuren. Die Eltern lassen sie nachsichtig gewähren. Es wird schnell deutlich, dass nicht Gleichgültigkeit das Verhalten ihrer Mutter und des Vaters bestimmt. Sie gehen sehr gelassen mit ihrer Tochter um und schaffen damit im Buch eine verständnisvolle und warme Atmosphäre.
Eines Morgens beispielsweise entscheidet sich Elín nicht mehr zu sprechen:
“Warum sie nicht mehr reden wollte, konnte sie nicht mit wenigen Worten erklären. Es war ihr eingefallen, als sie von der Kneipe aus nach Hause gelaufen war, und dann hatte sie den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Ein Fuchs sprach schließlich auch nicht.”
Elín trägt oft einen Rucksack vollgepackt mit Camping-Zubehör und Survival-Utensilien. Dieser Rucksack steht in meinen Augen auch irgendwie für die Möglichkeit, immer spontan wegzukönnen.
Die wahre Herausforderung
Die wahre Survivalherausforderung stellt sich für sie jedoch nicht im Wald und in der freien Natur, sondern in Gesellschaft ihrer Mitschüler, ihrer Eltern und anderer Mitmenschen. Manchmal wünschen wir uns die Einsamkeit und die Ruhe, und manchmal müssen wir sie uns auch nehmen.
Ein Buch wie “Das ganze Leben da draussen” ist wie ein stiller, anspruchsloser Dialogpartner, ein Freund gewissermaßen. Ich freue mich sehr über diese Entdeckung und werde im Auge behalten, was Nina Sahm als nächstes schreibt und veröffentlicht.