Jetzt, als erwachsene Frau, ist auch nicht immer alles einfach mit meinen drei Geschwistern. Wir sind so unterschiedlich wie es sich nur vorstellen lässt und dennoch habe ich mir zu keiner Zeit gewünscht Einzelkind zu sein. Meine Geschwister gehören zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben und ihr Glück ist immer auch eng mit meinem eigenen verbunden. Wird es immer sein.
Die längste Beziehung deines Lebens
Die Beziehung, die wir zu unseren Geschwistern pflegen, ist in der Regel die längste Beziehung unseres Lebens. Damit kommt ihr eine besondere Bedeutung zu und diese wird im Roman “Die Frau, die zu viel fühlte” von Charles Chadwick thematisiert.
Dass ich diesen Artikel über Geschwisterbeziehungen schreiben würde, wurde mir erst im Laufe des Buches klar. Zu Beginn meiner Recherche stand emotionale Hochsensibilität in meinem Fokus. Diese spielt in gewisser Weise eine tragende Rolle im Roman.
Julie, die Schwester unseres Protagonisten John, ist ein liebevoller, lebenslustiger Mensch.
Sie lebt ihr Leben in vollen Zügen, ist emotional, hilfsbereit und unterhaltend. Niemand kann ihr etwas wahrlich böse nehmen.
“Sie hatte so eine Art, dass sie immer glücklich wirkte. […] Wenn sie es gar nicht war. Als wollte sie sagen, so sollte die Welt sein. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie dadurch auch andere glücklich machte.”
Julie ist eine tragische Figur. Die verlorene Schwester, die vielleicht zu gut ist für diese Welt und damit aneckt. Sie schafft es nicht gut, Grenzen einzuschätzen und nervt damit ihre Mitmenschen, trotz ihres einnehmenden Wesens.
John, politischer Journalist, aus dessen Sicht der Roman erzählt wird, hat schon vor langer Zeit mit seiner Familie abgeschlossen.
Die beiden Schwestern – neben Julie gibt es noch Hester – bedeuten ihm nicht mehr viel. Im Grunde ist John froh, wenn er nicht viel von ihnen hört und sich seiner Karriere widmen kann.
Er hatte Julie früher öfter unter die Arme gegriffen und hatte dabei immer öfter Angst verspürt, sie könne ihn blamieren.
Ihr bedeutet mir nichts mehr
Die Beziehungsprobleme der drei Geschwister bestimmen die Grundstimmung der Geschichte. Wir lesen nicht oft, dass Liebe innerhalb einer Familie ihre Bedeutung verloren hat.
In “Die Frau, die zu viel fühlte”, steht diese Tatsache jedoch im Vordergrund. Dabei wird viel auf die Beziehung zu den Eltern eingegangen; traurige und teils sogar traumatische Erinnerungen, die es erst ermöglichten einander aus den Augen zu verlieren.
Scham, aber auch Angst und Stolz beeinflussen die Beziehung der Geschwister.
“Ich will einfach nur, dass alle immer glücklich sind. Man kann es nicht, wenn einem Erinnerungen in die Quere kommen, die eine Mischung sind aus Falschem und Schönem.”
So schreibt Julie in einem Brief und betont ihren Wunsch, ihre Schwester Hester und ihren Bruder John eines Tages wiederzusehen. Dass John diesen Brief eines Tages in den Händen hält – obwohl er nicht an ihn adressiert ist – hat mit seiner Suche nach Julie zu tun. Widerspenstig hat er diese Suche angetreten, nachdem ihn seine krebskranke Schwester Hester darum gebeten hat.
Eigentlich waren auch die wöchentlichen Anrufe bei Hester, die Bibliothekarin in einem kleinen Ort in England ist, nur noch pflichtgemäß.
“Die Anrufe sind inzwischen wirklich fast reine Routine, das muss ich leider sagen. Hester lebt in Lincolnshire und kommt nie nach London. […] Ihre Selbstbeherrschung scheint ihr jede Freude, jede frohe Erwartung abgedrückt zu haben […].”
Die weiteren Zeilen auf dieser Seite drücken Verachtung gegenüber Hester und ihrem Schattendasein aus.
John kann sich nicht vorstellen, dass sie noch Glück im Leben empfindet und vergleicht seine Welt, seinen Horizont und sein Umfeld mit dem seiner einsiedlerischen Schwester.
Erst die Krankheit – Hester muss operiert werden, weil ein Tumor entdeckt wurde – führt die beiden wieder zusammen.
John nimmt nun gezwungenermaßen Anteil am Alltag seiner Schwester, lernt ihre Eigenheiten, Beschäftigungen und ihre eigene Welt kennen. Es öffnet sich wieder etwas in dieser eingefrorenen Geschwisterbeziehung.
In einzelnen Rückblicken erfahren wir, wie es zu diesem Auseinanderdriften kommen konnte.
So tragisch es ist, dass eine Krankheit als Auslöser für erneuten Umgang dienen muss – dieser Auslöser ist effizient.
Beide, Hester und John öffnen den Blick für die Bedürfnisse, Gefühle und Sehnsüchte des anderen und lernen einander neu kennen. Eines dieser Bedürfnisse – zumindest auf Seiten Hesters – ist es, zu erfahren, wie es Julie ergangen ist, die vor Jahren spurlos aus ihrem Leben verschwand.
“Als ich sie an diesem Abend verließ, sagte Hester hastig, dass sie manchmal den übermächtigen Wunsch verspüre, Julie wiederzusehen, dass sie ihr Leben lang unzählige Male den Kopf gehoben und erwartet habe, sie durch die Tür kommen zu sehen, die Arme weit ausgebreitet für eine lange Umarmung. “Ich auch”, erwiderte ich. Aber das stimmte nicht.”
John hatte aufgehört seine Schwestern zu lieben.
Widersprüchliche Gefühle in Geschwisterbeziehungen
Er vermisste keine der beiden und es machte ihm etwas aus, dass man es von ihm erwartete. Diese Verhärtung löst sich allmählich. John gewinnt Einblicke in Hesters Leben, die sein hartes Wesen empfänglicher für liebevolle Gedanken gestalten.
Schließlich geht dieser Wandel soweit, dass er Hester den Wunsch, Julie zu finden, nicht abschlagen kann und sich auf eine lange Reise begibt.
Als ich mit der Lektüre des Buches begann, hatte ich nicht mit dem gerechnet, was mich erwartete.
Die Gefühle in Geschwisterbeziehungen sind widersprüchlich und oft für uns unverständlich. Geschwister sind uns so nah und haben mit uns Dinge erlebt, die wir manchmal vielleicht lieber vergessen würden.
Dass es nicht der Bruder oder die Schwester ist, die für diese Gefühle zuständig ist, sondern gemeinsame Erinnerungen – davon handelt dieser besondere Roman von Chadwick.
Ich freue mich über diese Entdeckung. Ich glaube, dass sie meine persönliche Beziehung zu meinen Geschwistern stärken wird und hoffe, dass auch du ähnlich empfinden wirst. Das bedeutet nicht, dass sich in eurem Umgang zueinander etwas ändert, aber dein Blick darauf wird sicher ein anderer sein. Verständnis hilft in vielen zwischenmenschlichen Situationen.
Beziehungen bestimmen unser Leben und wenige sind so intensiv und facettenreich wie die zu den Menschen mit denen du aufgewachsen bist. Dass das nicht immer einfach zu händeln ist, erklärt sich von selbst.
Die Auseinandersetzung mit solchen Themen lohnt trotzdem und die Literatur kann uns bei dieser Aufgabe helfen. Für diese Aufgabe wünsche ich dir viel Mut und Kraft.