Let's talk about Psychopathinnen
Gastartikel von Autorin Sandra VahleDas wertvollste an Literatur sind ihre Geschichten samt moralischer sowie gesellschaftlicher Botschaft. Aktuell sind wir im kapitalistischen Leistungsprinzip verankert, aber betrachtet man die Evolution der Menschheit, so wird der Kapitalismus in seiner jetzigen Form sicherlich nicht das letzte Gesellschaftsmodell sein, in dem wir Menschen leben werden. Und so hat jede Epoche ihre Literatur und jede Literatur ihren (feministischen) Auftrag.
In der Literatur existieren keine Grenzen. Gedanken sind frei und so darf auch das Frauenbild wandelbare Wagnisse beweisen. Wir müssen nämlich gar nicht zwingend dem Abbild des fragilen Geschöpfes entsprechen, das sodann auf wunderwirksame Weise im Laufe des Buches mit ganz unfassbar großem Aha-Effekt merkt, dass es auch selbst Bedürfnisse hat und diese auch berücksichtigen darf. Literarisch betrachtet dürfen wir sein, was immer wir wollen, und das völlig, gänzlich und wahrhaftig schwerelos.
Feminismus bedeutet Gleichberechtigung in jeder Hinsicht
Bücher, die ein differenziertes und komplexes Frauenbild zeichnen, leisten einen wichtigen Beitrag zum Feminismus – ich würde sogar so weit gehen, das dieser Beitrag auch geleistet wird, selbst wenn es gar ein psychopathisch gezeichnetes darstellt wie jenes in „Gone Girl“ oder das wohl gruseligste in „Misery“. So unerbittlich hier Seelen zerstört werden, demonstrieren diese beiden Werke gleichermaßen die facettenreiche Seele einer Frau, die über die Pflicht des willenlosen Geschöpfes, das bloß gut auszusehen hat, hinausgeht. Neben Annie Wilkes bösartiger Seite, jene sie zweifellos in sich trägt, keimt da eine ungeliebte Seele, die gleichsam der Liebe nicht befähigt ist – ebenso wie bei unserem gestörten Feger Amy.
Erwecke die Psychopathin in dir?
Literarisch betrachtet waltet hier Gleichberechtigung, denn wer einmal Richard Laymon gelesen beziehungsweise verschlungen hat, weiß, dass jene komplexe Psychopathen-Rolle männliche Protagonisten ebenso spannend und faszinierend gut kleidet. „Die Insel“ oder „Die Jagd“ bieten zwei aufschlussreiche Wechselbäder in die kranke Gedankenwelt und Abgründe von Psychopathen. In beiden Werken spielt dabei sexuelle Begierde eine große Rolle, und hier demonstriert insbesondere unser Gone Girl Amy, dass Frauen desgleichen sexuelle Begierde in Verbindung mit gewaltvollen Phantasien verspüren, die sich zuweilen schlecht steuern lässt. Bei Annie Wilkes hingegen waltet im Laufe der blutrünstigen Psychopathen-Jahre wohl eher sexuelle Gleichgültigkeit, die sich aber zwischendurch gegenüber ihrem Idol Paul durchaus und in Ansätzen als eine Art Begierde deuten lässt.
Wir müssen endlich aufhören, in Frauen die Hure zu sehen, sobald Sie sexuell agiert
In der Literatur wird gern und oft die unschuldige Jungfrau bevorzugt behandelt und als absolut ehrenwert dargestellt – „50 Shades of Grey“ lässt grüßen. Man darf und muss hier allerdings lobend erwähnen, dass gleichsam die Hure Madonna geliebt wird, und das war ja nahezu skandalös. Denn das passt ja doch eigentlich gar nicht zusammen in Anbetracht des Madonna/Huren-Komplex. Dabei sind Reinheit und Unschuld in der Realität nicht die einzigen Eigenschaften von Frauen.
Literarische Gleichberechtigung ist jedenfalls so wichtig, weil sie unsere Gesellschaft mit prägt. So war das Rollenbild der Frau zu Hitlers Zeiten beispielsweise davon gezeichnet, dass sie zum Wohle der Volksgemeinschaft mit Treue, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit und Selbstlosigkeit vor allem ihrer Pflicht als Mutter nachzukommen hat – und so hätte Adolf ganz sicher nicht gewollt, dass weibliche Psychopathen, sprich Psychopathinnen, die Bestsellerlisten stürmen. Geschweige denn Huren.
Heutzutage dürfen wir das. Wir dürfen literarisch betrachtet jede Rolle annehmen, die wir mögen und sei es eben die facettenreiche Rolle der kranken, verrückten Närrin, die jenseits des übersteigerten Widerstands gegen Unterdrückung, ein Aufbäumen und Verarbeitung seelischer Verletzungen impliziert, wenngleich einer jeden Frau unbedingt klar sein sollte, dass man in der Realität dafür keineswegs zur Annie oder Amy mutieren sollte. Obschon Gewalt waltet, zeichnet Literatur keine Gewaltverherrlichung, vielmehr sensibilisiert sie mitsamt dem wichtigen Auftrag dafür, dass das menschliche Wesen samt seiner Seele verwundbar ist. Weil eben jeder verletzlich ist. Punkt.
Das fragile Hilfsmittel der Axt, betörender Fesseln oder des wild gewordenen Rasenmähers transportiert im Rahmen einer Psychoanalyse zum Zweck der Selbsttherapie lediglich eine Botschaft in metaphorischer Form. In diesem Sinne – der Freiheit ihre Kunst und der Kunst ihre Freiheit und Gleichberechtigung.
Gastautorin Sandra Vahle
Sandra Vahle lebt als freie Autorin / Texterin / Bloggerin in der Fußballstadt Dortmund. Zum Thema Gleichberechtigung hat sie zusammen mit ihrer Co-Autorin Mary Green das Buch „(K)eine Frau zum Verlieben“ geschrieben. Anstelle einer Axt, Rasenmähers oder eines Eispickels walten hier eine ordentliche Portion Witz, Ironie und Sarkasmus als dienliche Helfer für literarische Freiheit. Den Autorinnen war es wichtig, die Realität zum Thema Liebe & Sex zu spiegeln, aber zugleich die gesellschaftlich geforderte Konditionierung hin zur heiligen Madonna zu entschärfen.
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