Wir können doch über alles reden!
Wenn du mit deinem Partner oder deiner Partnerin sprichst, deinen Kindern oder auch mit Freundinnen – wie sehr achtest du dann auf deinen Ton und darauf was du sagst? Haben deine Launen direkten Einfluss auf deine Kommunikation? Wirst du manchmal bissig, überheblich, vielleicht sogar gehässig? Und andersrum: Wie reagierst du, wenn sich jemand dir gegenüber im Ton vergreift und ausfallend wird? Äußerst du dein Missfallen oder lässt du vieles durchgehen? Um Sprache und unsere Kommunikationswege geht es in “VOX”, dem feministischen Roman von Christina Dalcher.
Titel: VOX
Autorin: Christina Dalcher
Übersetzerinnen: Marion Balkenhol, Susanne Aeckerle
Verlag: S. Fischer
Was, wenn dir die Worte fehlen
Viele Artikel über “VOX”, den Skandalroman von Christina Dalcher, beginnen mit der Aufforderung, man/frau möge sich doch einmal vorstellen, nur Hundert Wörter am Tag sprechen zu können. Dieser Artikel hat das acht bis zehnfache davon, aber auch so sollte klar sein: Wer nicht mehr als 100 Wörter am Tag spricht, verzichtet auf Erklärungen; auf die Äußerung von Gefühlen und Bedürfnissen und darauf, der eigenen Meinung mit Adjektiven und Beschreibungen Ausdruck zu verleihen.
Wie ein unmenschlicher Plan alles verändert
Natürlich ist es ein feministischer Roman. “VOX” hat einen deutlichen feministischen Fokus. Er äußert sich in der Handlung, aber auch in den Figuren. Jean, die Protagonistin wächst im Laufe der Geschichte über sich hinaus. Noch zu Anfang ist sie vor allem die unzufriedene Beobachterin, die mit der Zeit jedoch immer aktiver und rebellischer wird.
“Ich lernte, wie schnell ein Handyvertrag annulliert werden kann und wie effizient junge Soldaten beim Anbringen von Kameras sind. Ich lernte, sobald ein Plan vorhanden ist, kann alles über Nacht passieren.”
Der Plan ist denkbar simpel: eine neue fundamentalistische Regierung wünscht sich konservative und traditionelle Gesellschaftsstrukturen. Die Frau soll den Haushalt führen, der Mann für den Lebensunterhalt sorgen. Um solche Strukturen wiederherzustellen, werden den Frauen Folterarmbänder angelegt: Zählwerke, die Stromstöße verteilen, sollte die Trägerin mehr als die vorgegebene Anzahl an Wörtern äußern.
“Niemand kann die Hälfte der Bevölkerung zum Schweigen bringen.”
Jean sollte sich irren.
Provokativ und radikal
Ich werde zu den feministischen Gedanken des Buches nicht mehr viel sagen. Du kannst im Internet sehr viel dazu lesen. Sowohl positive, als auch ablehnende Stimmen. Ich mag das Buch sehr, auch weil es provokativ und radikal ist, möchte an dieser Stelle aber ein paar andere spannende Aspekte beleuchten. Der Roman von Christina Dalcher hat nämlich noch soviel mehr zu bieten. Zum Beispiel eine außergewöhnliche Sensibilisierung für die Bedeutung der Sprache. Im Vorwort des Buches schreibt die Autorin:
“Ich hoffe, Sie lesen VOX auf zweierlei Weise: sowohl als spekulative politische Dystopie, in der die Übermacht staatlicher Kontrolle das Leben einer Familie zerstört, und als Gedankenspiel, das Ihnen das Geschenk der Sprache vor Augen führt, dieses erstaunlich komplexe Vermögen, das wir so oft als selbstverständlich betrachten.”
Die Autorin Christina Dalcher selbst ist promovierte Linguistin und erforschte den Laut- und Sprachwandel in italienischen und britischen Dialekten. Wir erfahren im Roman viel über die Bedeutung des Sprechens als Kulturtechnik. Neben den linguistischen Aspekten, spielen auch soziologische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle. Die Geschichte beleuchtet das Auseinanderbrechen einer amerikanischen Familie mit all den Ängsten, Unsicherheiten und Verletzungen.
“Ich glaube, das könnte der Moment gewesen sein, in dem ich begonnen habe, meinen Mann zu hassen.”
Ein Buch, das übellaunig macht
Ich möchte ganz ehrlich mit dir sein. Während meiner Lektüre von “VOX” war ich die meiste Zeit übellaunig und angespannt. Es ist ein Buch, das aufrüttelt und wütend macht. Angestachelt, habe ich über eigene Kommunikationsmuster nachgedacht und natürlich auch über die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Allein in unserem täglichen Umgang miteinander, werden oft Bedürfnisse untergraben, die doch so wichtig für uns sind.
“”Ich hab dich lieb, Mommy. Ganz doll.” Nur sieben Wörter, und mir bleibt das Herz stehen.”
Manchmal reichen ein paar wenige Worte, um uns den Atem zu rauben. Manchmal jedoch können selbst lange Monologe die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner nicht erreichen. Mimik und Gestik, Gefühle und Beziehungen spielen eine ebenso wichtig Rolle, wie die verbale Botschaft eines Gesprächs. Wir wollen weder auf die einen noch auf die anderen Komponenten verzichten.
“VOX” von Christina Dalcher ist ein Roman über Widerstand, Feminismus, Kommunikation und über den Mut, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Darüber hinaus, ist es ein Roman, der ermutigt auch für andere einzustehen, ihnen Fehler zu erlauben und zu akzeptieren, dass wir alle (nur) Menschen sind.
“Überlege, was du tun würdest, um frei zu bleiben?”
Mit dieser Frage, die sich auch Jean immer wieder stellte, möchte ich an dieser Stelle schließen. “VOX” ist ein starker Roman, keine entspannende Urlaubs-Strand-Lektüre, aber in jedem Fall ein spannendes Lese-Abenteuer.