Hab keine Angst vor der Angst
Sehr viele Menschen kennen Panikattacken, verspüren Angstzustände oder sind unsicher, wenn sie vor einer Gruppe reden müssen. Jeder sechste Mensch leidet einmal im Leben unter einer Angststörung. Aus Angst vor Stigmatisierung sprechen sehr viele nicht darüber. Franziska Seyboldt schon.
Solltest du gerade akut Unterstützung brauchen, bitte ich dich, auf der Seite “Hilfsangebote” weiterzulesen.
Wovor hast du Angst?
Vielleicht davor, mir zu sagen, wovor du Angst hast?
Ich möchte, dass du jetzt mal kurz etwas ausprobierst. Am Besten geht das in einer großen Menge von Menschen, aber du kannst alternativ auch die Kontaktliste deines Smartphones dafür nutzen. Suche dir irgendwo eine Person aus mit der du anfängst und jetzt zähle ab. Also Person 1 ist 1, die nächste 2, danach 3 und so weiter. Immer bis 6. Dann beginnst du wieder von vorne zu zählen.
So häufig sind Angststörungen
Jedenfalls hast du jetzt eine unbestimmte Menge an Menschen und immer die Sechste: Die hat statistisch gesehen einmal in ihrem Leben eine Angststörung.
Jeder sechste Mensch leidet einmal im Leben unter einer Angststörung.
Jeder ist anders betroffen
An dieser Stelle der Hinweis, dass eine Angststörung, wie jede psychische Störung, jede Krankheit, jede Herausforderung im Leben, den einen ganz anders betrifft als die andere. Wir können Anhaltspunkte, Inspiration, Verständnis, Erleichterung empfinden, sollten aber davon absehen, zu glauben, exakt den gleichen Weg einschlagen zu müssen wie unsere Protagonistin.
Franziska Seyboldt hat sich für ihr Buch nicht etwa irgendeine Protagonistin ausgedacht, deren Marotten, Fehlschläge und Unsicherheiten uns darüber hinweg helfen sollen, selbst auch nicht ganz perfekt zu sein. Im Buch “Rattatatam, mein Herz” beschreibt die Autorin ihre eigene, ganz persönliche Erfahrungsgeschichte mit ihrer Angststörung.
“Hör mir jetzt mal gut zu”, sagte die Angst.
“Diese Ärztin ist nichts für dich.” Sie beugte sich zu mir und sprach eindringlicher.
“Am besten gehst du überhaupt nie wieder zum Arzt.”
Es sind diese Gespräche mit ihrer personifizierten Angst, die den besonderen Charme des Buches in meinen Augen ausmachen. Im Buch ist die Angst nämlich wie der imaginäre Freund, den wir in unserer Kindheit hatten. Nur dass dieser Freund unsere Protagonistin nie verließ.
Die Angst schützt auch
“Die Angst sagte immer solche Erwachsenensachen, die mir nicht im Traum eingefallen wären. Wobei, eingefallen schon, aber ich hätte mich niemals getraut, sie auszusprechen, vor allem, da die Sprechstundenhilfe noch im Raum war. Der Angst war das egal. Ihr ging es nur darum, mich zu beschützen, und dass sie hier war, bedeutete: Die Lage war ernst.”
Sich mit der Angst unterhalten: Dieses kleine fantastische Element gibt Franziskas Umgang mit der Angst eine Leichtigkeit, die uns im Alltag oft leider fehlt.
Über die Angst sprechen wir nicht
Obwohl so viele Menschen Panikattacken kennen, Angstzustände verspüren oder große Unsicherheit haben, wenn sie vor einer Gruppe reden müssen, werden solche vermeintlichen Schwächen tabuisiert. Man traut sich oft nicht darüber zu sprechen und das Problem wird zwangsläufig verstärkt. Ähnliche Vorbehalte berichtet Seyboldt auch im Zusammenhang mit der Entscheidung ihre Angststörung therapieren zu lassen.
“Wer eine Therapie macht, gesteht sich ein, dass er ein Problem hat. Vorher konnte ich die ganze Sache wunderbar runterspielen, vor allem vor mir selbst. Okay, ich habe da diesen Angstscheiß, Psychokram halt, aber jeder hat ja irgendwas. Und dann wird die Sache plötzlich zu einer Diagnose.”
Bei einer einzigen Therapie bleibt es nicht und diese Tatsache hat mich besonders beeindruckt: Es braucht Kraft nach einer erfolglosen Therapie einen zweiten Anlauf zu wagen und genau das tut Franziska Seyboldt. Dieses Mal mit Erfolg. Was nicht bedeutet, dass ihre Angst nun verschwindet. Ihr Umgang mit der Angst hat sich verändert: Sie schafft es sogar öffentlich darüber zu sprechen.
“Ich bin nicht ernster geworden, ich bin echter geworden.”
Stigmatisierung, Ausgrenzung, Unverständnis
Dass eben das nicht immer leicht ist, liegt nahe. Oft befürchten wir Stigmatisierung, Ausgrenzung, Unverständnis.
“Der Cousin meiner Kollegin hat auch eine Angststörung”, sagt Sabine.
“Ist auf irgendwelchen Drogen hängen geblieben.”
Fehlt nur noch, dass sie fragt, ob ich ihn zufällig kenne.
“Rattatatam, mein Herz” ist keine Ratgeberliteratur und keine Autobiographie der Angst. Es ist eine angenehm zu lesende Dokumentation verschiedenster Konfrontationen mit der Angst aus dem Leben einer jungen, sympathischen Journalistin.
Sie liefert nicht die letzten Antworten auf das Leben mit der Angststörung; sie erklärt nicht, wie du sie jetzt und hier und sofort los wirst, aber sie schafft etwas anderes und das ist mindestens genauso wichtig wie ein vermeintliches Heilsversprechen: Sie geht ehrlich mit ihren Ängsten und den verbundenen Gedanken um und zeigt, dass Gefühle zwar eine Daseinsberechtigung haben, aber ganz bestimmt nicht immer Recht.
“Wer hat dich eigentlich so verkorkst?”, fragt die Angst.
Diplomatie ist nicht so ihr Ding.
“Na, du.”
“Kann gar nicht sein!”
Es folgt eine zermürbende Diskussion darüber, wer denn nun recht habe, wer schuld sei und vor allem, wie es weitergehen solle. Auf Franziskas Aufforderung, die Angst solle sich endlich verpissen, reagiert diese auf die ihr eigene, durchtriebene Art:
”So läuft das aber nicht.”
“Ach nein? Und warum nicht?”
“Na, ganz einfach. Weil wir zusammengehören.”
Ganz schön überzeugend, diese Angst
Seyboldt betont in verschiedenen Szenarien wie wichtig der liebevolle und achtsame Umgang mit sich selbst ist. Und mit einem Zitat, das genau diese Nachsichtigkeit und Geduld mit uns veranschaulicht, möchte ich enden:
“Geburtstag. Rückblickend stelle ich fest, dass ich extrem viel schlauer bin als vor einem Jahr, und da war ich schon extrem viel schlauer als im Jahr zuvor, demzufolge bin ich im Vergleich zu nächstem Jahr extrem dumm. Das beruhigt mich irgendwie, es nimmt der Gegenwart die Schwere.”
Danke, liebe Franziska Seyboldt für deine Offenheit und den wertvollen Erfahrungsbericht.