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Frankenstein – Anatomie eines Klassikers

Gastartikel von Autorin Swantje Niemann

Es gibt Bücher, die von Generation zu Generation immer wieder gelesen werden – und scheinbar jedes Mal etwas Neues zu sagen haben. Was ist es, das einige Bücher noch Jahrhunderte später relevant und bewegend scheinen lässt? Die Phantastik-Autorin Swantje Niemann beschreibt dieses Phänomen am Beispiel von „Frankenstein“ – ein Klassiker.

Zeichnung eines Monsters

Frankensteins Monster: komplex und aktuell

Was ist Mary Shelleys „Frankenstein“? Ein Horror-Klassiker? Eine Warnung vor Forschung und Technik, die ohne jede Rücksicht auf Konsequenzen vorgeht? Ein kühnes Gedankenexperiment, das untersucht, wie Menschen von ihrer Umwelt geformt werden? Ein Buch über Freundschaft? Meiner Meinung nach ist es alles auf einmal. Vielleicht der Grund für die bis heute ungebrochene Faszination des Buches?

„Frankenstein oder der moderne Prometheus“ spielt im ausgehenden 18. Jahrhundert und schildert ein kühnes Experiment, das entsetzlich schief läuft: Ein ehrgeiziger Wissenschaftler versucht, Leben zu erschaffen, aber flieht schließlich entsetzt vor seiner Schöpfung. Doch das Wesen, das er allein in eine feindselige Welt entlassen hat, lässt sich nicht so einfach abschütteln. Frankenstein droht alles zu verlieren, was ihm etwas bedeutet. Mehr Details findet ihr in meiner Rezension zum Buch „Frankenstein“.

Was wohl auch zum Mythos Frankenstein beigetragen hat, sind Mary Shelleys außergewöhnliche Biographie sowie die Inspiration für Frankenstein im „Jahr ohne Sommer“. Die Idee kam ihr im Rahmen eines Gruselgeschichtenwettbewerbs mit so illustren Teilnehmern wie John Polidori. Dessen Lord Ruthven wurde prägend für den Archetyp des aristokratischen Vampirs, Percy Shelley. Dieser wiederum forderte mit seinem Atheismus und seinen republikanischen Überzeugungen die Ordnung seiner Zeit heraus. Außerdem war da noch George Byron, der von Caroline Lamb als „mad, bad and dangerous to know“ beschrieben wurde.

Die Psychologie des Horrors

Mann in der DunkelheitViel in dem kurzen Roman erfüllt die Anforderungen einer Horrorgeschichte nur zu gut: Hier begegnen uns etablierte Tropen, wie der des Wissenschaftlers, der während eines nächtlichen Gewitters besessen an einer widerwärtigen Schöpfung arbeitet, und der eines unerbittlichen Verfolgers, der beinahe unbesiegbar scheint. Die Drohung von Gewalt und Verlust schwebt immer wieder über den Figuren. Bedeutender jedoch sind die psychologischen Aspekte: Frankenstein ist oft anstrengend selbstmitleidig, aber seine Schuld und Scham, als seine Schöpfung seine Freunde und Verwandten in Gefahr bringt, und die Angst und Isolation, die er wegen seines dunklen Geheimnisses erlebt, sind eindringlich geschildert.

Vieles ist bereits über das Monster und die mögliche Anwendbarkeit von Frankensteins tragischer Geschichte auf unsere Zeit geschrieben worden. Die Idee, dass Wissenschaft und Technik unkontrollierbare Bedrohungen hervorbringen können, klingt bei allem fantastischen Potenzial, das sie auch mit sich bringen, nur zu vertraut.

Die Stärke von Shelleys Roman ist, dass er sich hier nicht klar auf eine Seite stellt. Wir sehen durch eine Vielfalt von Perspektiven eine Situation, die auch eine ganz andere Wendung hätte nehmen können. Was, wenn Frankenstein die Verantwortung für seine Kreatur übernommen hätte? Und selbst wenn seine Hybris letztlich in eine Katastrophe führt, sind seine letzten Worte doch die Frage, ob nicht ein anderer Wissenschaftler seine Forschungen erfolgreicher zu einem Ende führen könnte.

Dies ist scheinbar das große Thema des Romans, das zu Spekulationen und Diskussionen einlädt. Aber darin erschöpft sich der Roman nicht, denn auf einer persönlicheren Ebene ist er – zumindest mir – immer als ein Buch erschienen, das um eine fundamentale Wahrheit über uns Menschen kreist: Wir sind soziale Wesen.

Frankensteins Monster – ein soziales Wesen

Zeichnung eines HerzensFrankenstein hat seine Freunde und seine Familie jahrelang nicht gesehen, als er das Monster zum Leben erweckt, und es ist die Beobachtung menschlicher Nähe, die in seiner Schöpfung den Wunsch weckt, gut zu sein – und die Erfahrung von Einsamkeit und Zurückweisung, die diesen Vorsatz ins Gegenteil verkehrt. Shelley ist es meiner Meinung nach gelungen, ein eindrucksvolles Buch über die zerstörerische Wirkung von Isolation zu schreiben.

Und ich glaube, genau das macht ein gutes Buch aus: Es schaut gleichzeitig nach außen (siehe die großen philosophischen, entwicklungspsychologischen, sozialen und wissenschaftsethischen Fragen, die Frankenstein berührt – und dabei verblüffend moderne Ideen verbreitet), aber auch nach innen (im Fall von Shelleys Roman mit der sehr viel intimeren Geschichte über Freundschaft und Isolation, Geborgenheit und Zurückweisung, Verantwortung und Schuld).

Einerseits lädt das Buch zum Denken ein, insbesondere, weil Shelley klare moralische Urteile und einfache Antworten verweigert, andererseits zum Fühlen. Und noch eines macht für mich ein gutes Buch aus: die Eröffnung neuer Perspektiven. Und genau das gelingt Shelley, indem sie dem Monster eine Stimme gibt und Leser*innen damit indirekt dazu bringt, über ihre eigenen Vorurteile zu reflektieren.

Natürlich, die Sprache ist altertümlich und gerade die Frauenfiguren in ihrer sanften Aufopferungsbereitschaft deutlich weniger interessant als die moralisch eher grauen Charaktere von Frankenstein und seiner Kreatur, aber dennoch ist „Frankenstein“ ein Buch, das wegen genau der von mir angesprochenen Aspekte sicher nicht allzu bald an Popularität verlieren wird – und ein Beweis dafür, dass intelligente Phantastik nicht nur die Flucht aus der Realität ermöglichen, sondern auch einen neuen Blick auf diese ermöglichen kann.

Gastautorin Swantje Niemann

Gastautorin Swantje Niemann

Swantje Niemann wurde 1996 in Berlin geboren und ist, abgesehen von mehrmonatigen Sprach- oder Studienaufenthalten in England und Norwegen, mehr oder weniger dort geblieben. Im Sommer 2018 machte sie ihren Bachelor der Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder), wo sie nun im Master Kulturgeschichte studiert. In ihrer Freizeit liest sie viel, trainiert Kendo und spielt Harfe. Ihr Romandebüt „Drúdir – Dampf und Magie“ verbindet klassische Fantasy mit der mitreißenden Dynamik einer industriellen Revolution: In einer Welt voller sozialer und politischer Spannungen geht der Zwerg Drúdir ein hohes Risiko ein, um die Wahrheit über den Tod eines engen Freundes herauszufinden. (Bild © Roger Steen)

Swantje Niemann findet ihr hier im Internet:
Facebook, Twitter und ihre Webseite.
 

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